Mühltalschule, Turnhalle. Heute im Schlepptau meine Klasse 9a. In den letzten Wochen haben wir intensiv die Tennis-Grundlagen erlernt. Alle rennen los, um sich den besten Schläger zu sichern. Doch heute beginne ich die Stunde anders. Ich bitte alle, sich einen Partner/ eine Partnerin zu suchen und im Kreis zusammen zukommen. „Jeder bekommt nun einen Igelball von mir. Ich möchte, dass ihr euch gegenseitig den Schulterbereich massiert. Das wird die Muskulatur lockern und euch auf die heutigen Übungen vorbereiten.“ Verdutzte Gesichter erblicken mich, nicht lange dauert es und die ersten Kichereien fangen an. „Och ne, Herr Müller das ist ja voll strange.“ „Fällt das schon unter sexuelle Belästigung? Ich frage für eine Freundin.“ „Ihhhh Marcel, du riechst. Ich will nicht.“

Nunja, wirkliche Gegenargumente habe ich jetzt nicht. Also versuche ich meine Klasse zu beruhigen und lasse es ihnen frei, ob sie da mitmachen oder nicht. Ein Versuch war’s wert, aber warum ist jeder so verschlossen gegenüber Berührung? Hmmm, sicherlich spielt die Pubertät eine große Rolle. 

Zu Gast im heutigen Blogbeitrag: Christiane Hosemann von KidsRelax. Sie ist Trainerin für Stressmanagement, für Entspannungsverfahren (u.a. Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training), Yogalehrein (BYV), u.a. und arbeitet tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen.

Berührung als Ur-Erfahrung steckt tief in uns drinnen

Vielen (vor allem jungen) Eltern ist der Begriff Bonding kein Fremdwort – es geht um den Haut an Haut Kontakt in den ersten Stunden eines Neugeborenen, der einer Überlebensstrategie gleicht. Vor allem Frühgeburten hilft dieser Kontakt sich selbst zu regulieren und besser zu atmen – aber woher kommt das.

#FACT: 1cm Haut hat 3000 Hautsinneszellen.

Aus wissenschaftlicher Sicht können wir unsere Hirnströme bei Berührung messen und sehen klar, dass hier unser vegetatives Nervensystem anspringt. Der Parasympathikus als unser „Ruhenerv“  wird angesprochen und sinkt Herz-, sowie Atemfrequenz.

Wir befinden uns im aktiven Stressabbau und Abwehrkräfte werden gestärkt. Also nichts wie los, Umarmungen sammeln, Händeschütteln, eine wohltuende Massage nach Feierabend einfordern oder die Geborgenheit des eigenen Partners genießen.

Dreimal darfst du aber nun raten, was wir tagtäglich mehr berühren:

Die Haut anderer oder unsere Smartphones? 😉

Sportunterricht und Berührung: ein Tabu?!

Herausfordernde Zeiten (Pandemie) liegen hinter uns, der menschliche und zugleich analoge Vorgang wurde unterbrochen. Durch die Digitalisierung blieben wir im Kontakt, doch Berührungen verschwanden. Aber auch ohne Pandemie kämpfen Menschen schon viele Jahre in der sogenannten „Kaktusphase“ mit dem Thema Berührung:

Wenn Kinder zu jungen Erwachsenen heranwachsen und in die Pubertät kommen, fällt es Eltern und Lehrkräften oft schwer, einen gewissen Zugang zu erhalten. Die Unsicherheiten mit dem eigenen Körper, Aussehen und meist auch dem veränderten eigenen Geruch überwiegen.

Aber Achtung, auch wenn Selbstzweifel und Unsicherheiten groß sind, bleiben Bedürfnisse wie Sehnsucht und Geborgenheit erhalten.

In den Schulen herrschen jedoch Hemmungen auf beiden Seiten vor körperlichen Situationen. Viele Lehrkräfte distanzieren sich von Anfang an aus Angst vor Strafbarkeit und leisten keine oder nur die nötigsten Hilfestellungen. Ein großes Spannungsfeld, welches klarer Ausrichtung bedarf.

Dabei zählen Sportlehrkräfte doch eigentlich zu den sogenannten „Berufsberührenden“. Deren Berührungshandeln einer sozialen Normierung und Rationalisierung unterliegt. Was heißt das eigentlich genau… ist anfassen und zupacken immer erlaubt und sinnvoll?

Liest man im Beamten Portal heißt es: „ob Körperkontakt zwischen Schüler und Lehrer angemessen ist, entscheidet die jeweilige Situation.“ Stell dir dafür vielleicht folgende Fragen:

  • Benötigt ein Schüler/ eine Schülerin Hilfe?
  • Ist Aufmunterung und Trost nötig?
  • Läuft jemand Gefahr, sich zu verletzen?

Im Alltag sprechen wir oftmals über Worst Case Szenarien (was wenn die Schülerin mich anzeigt wegen sexueller Belästigung) und verlieren den Blick für das Wesentliche. Somit ist das Thema Angst vor unangenehmen Berührungen also auf beiden Seiten präsent. Es benötigt altersgerechte Sensibilisierung, Aufklärung und Transparenz. Vieles wird einfach „schon immer so gemacht“ und gar nicht thematisiert.

Nehmen wir das Beispiel Schwimmen. Wir hinterfragen nicht die Wichtigkeit des Schwimmen-Lernens. Aber bedarf es nicht etwas mehr Aufklärung und Sensibilisierung bevor man eine Klasse halbnackt im Schwimmbad loslässt. Was vorher noch gut unter dicken Wollpullis und weiten Hosen verdeckt war, wird nun entblößt und zu Schau gestellt ohne Rücksicht auf Verluste. Das kann für viele Kinder und Jugendliche zu Verstörungen führen.

Kann Sportunterricht mehr (Ver)Bindung schaffen?

Wir sind Körperwesen, wachsen damit auf und Körperlichkeit gehört zum Gruppengefühl dazu. Doch ohne fehlendes Wissen und Absprachen, separieren wir uns immer mehr selbst. Damit wird der bewusste Wandel Richtung Achtsamkeit unterbrochen. Natürlich machen es die aktuellen Gegebenheiten nicht immer einfach, wir bewegen uns in einer Pandemie Blase. Umarmungen oder Handbewegungen haben uns „früher“ den Start in eine Kommunikation erleichtert. All das muss sich erst wieder neu finden.

Aber GOOD NEWS: Auf lange Sicht gesehen lassen sich unsere Impulse nicht unterdrücken.

Betrachten wir unseren Hormonhaushalt, kennen wir alle das sogenannte Oxytocin. Auch Friedlichkeitshormon oder Bindungshormon genannt. Durch Ausschüttungen herrscht nachweislich eine geringere Gewalt Bereitschaft. Frieden beginnt auf körperlicher Ebene.

Die Profis machen es vor:

Schaut euch im Profisport um: Körperbetonte Rituale sind ein fester Bestandteil. Teams umarmen sich vor Wettkämpfen oder geben sich High Five. Das fördert die Verbindung, den Teamgeist und motiviert. Praxisimpuls: Findet doch mit einer kleinen Hausaufgabe gemeinsam heraus, welcher Sport, welche körperlichen Rituale nutzt und sammelt die Ergebnisse in der nächsten Sportstunde – nachmachen erlaubt.

 

Im Sport haben wir optimale Bedingungen, um Strategien der Stressbewältigung einzubauen. Zum Beispiel kannst du mit deiner Gruppe nach intensiven Sporteinheiten mit kleinen Massagen beginnen. Frage aktiv in die Gruppe und stelle vorhandene Hilfmittel (z.B. Bälle) vor. Sollte es zu Beginn schwierig sein, empfehlen wir dir den Einstieg in den spielerischen Kontext. Den Yoga Baum als Gruppenarbeit oder Rückenhebung mit Schaukeln.

Kleine Rituale erleichtern den Start.

Es muss nicht die klassische Massage sein, Berührungskontakte über Spiele sind ebenso möglich. Ein Beispiel:  Die Ellenbeuge von Schüler/in A liegt frei. Diese malt sich mit einem Stift einen Kreis auf den Arm. Die Stelle sollte als sensibel gewählt sein. Schüler/in B nimmt nun einen Gegenstand (Stift, Feder, etc.) und spaziert über den Arm von Schüler/in A. Mit verschlossenen Augen muss nun Schüler/in A ein Zeichen geben, wenn er/sie denkt, Schüler/in habe mit dem Gegenstand den Kreis erreicht. Die Kniekehle ist auch als Alternative möglich. Die Übung bringt eine spannende Erfahrung und das Bewusstsein wird gefördert. Wann berührt mein Gegenüber den Kreis oder vielleicht liegt mein sensibelster Punkt ja auch ganz woanders?

Diese Erfahrungen wirken sich positiv auf die eigene Körperwahrnehmung aus, besonders für Kinder und Jugendliche, welche oft erfahren müssen, dass Bedürfnisse nicht gehört oder gesehen werden. Sie beziehen z.B. die Reaktionen ihrer Eltern auf sich und „stumpfen“ ab bzgl. körperlicher Berührungen. Positive Erfahrungen stärken die Wahrnehmung nachhaltig.

Körper und Geist kommen in Einklang.

Fazit im Schulalltag

Das A und O sind klare Regularien. Rede mit deiner Gruppe, sie haben vielleicht dieselben Sorgen und Gedanken wie du. Je nach Alter solltest du unterschiedliche Ansätze wählen, deiner Gruppe auf Augenhöhe begegnen und ansprechen, was genau gewünscht wird.

Wir möchten dich ermutigen, die Möglichkeit für Berührungen zu schaffen! Aus Verunsicherung nichts zu tun, wäre auch nicht richtig. Gemeinsam dürfen wir lernen, dass Berührungen gut tun können.

WHEELUP YOU.