Verdrängungsgesellschaft

„Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ Diesen Satz haben wir alle schon gehört und angewendet – oder? Doch wie fatal sind solche Sätze mit denen wir unser Gegenüber (meist Kinder) „trösten“ wollen?

Spoiler: Nicht umsonst, sind die Wartelisten der Psychologen überfüllt, sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene.

Das Thema Gefühle wird (wenn überhaupt) nur im Sachunterricht zeitlich begrenzt gelehrt. Dabei ist das (Er)Kennen und Annehmen von Gefühlen so maßgeblich für die Persönlichkeitsentwicklung und das soziale Miteinander und sollte tagtäglich seinen Platz in der Schule finden.

Fröhlichkeit, Traurigkeit, Wut oder Enttäuschung sind Gefühle die es anzunehmen gilt, doch als Kind lernen wir schnell, dass manche Gefühle nicht immer und überall erwünscht sind. Beispiele finden wir ab dem frühkindlichen Alter, wenn ein Kleinkind hinfällt und aufgrund von Schmerz oder auch „nur“ dem Schreck anfängt zu weinen. In diesen Situationen neiden wir zur Sätzen wie „Ist nicht schlimm“ „Alles gut“ „Komm ich puste dein Aua weg“, um Trost zu spenden – wir wollen ja niemanden leiden sehen. Was lernt das Kind? „Ah Mama sagt, das Gefühl ist gar nicht da – da kann gar kein Schmerz oder Schreck sein. Mein Gefühl ist falsch.“

Es geht weiter in der harten Welt der Kindergarten-Eingewöhnung und endet im Unterricht, wo jeder Gefühlsausbruch störend wirken kann. „Jens, bitte lass deine schlechte Laune zuhause.“ „Ok, das war lustig, aber jetzt konzentriert euch wieder.“ „Hast du dir wehgetan? Zeig mal – ach da ist nix, alles gut, weiter geht’s“. Wir wollen trösten und schnell weiter machen – warum? Weil wir es selbst so gelernt haben und nun nicht mit starken Gefühlen anderer umgehen können.

Emotionaler Rucksack

Behalten Kinder und Jugendliche diese Gefühle (vor allem die negativen) für sich, wird der Rucksack voller nicht gefühlter Probleme, Ängste und Sorgen auf dem Rücken immer größer und schwerer. Dieser Rucksack wird später zum Problem, er kann verhindern, dass wir gesunde Beziehungen führen, gute Entscheidungen für uns treffen und er sorgt dafür, dass wir Probleme an die nächste Generation (oft unbewusst) weitergeben. Er sorgt dafür, dass man das Leben nicht in allen Zügen auskosten kann, wenn m.an ihn zu voll werden lässt oder ihn nicht zwischendurch „aufräumt“..

Herausforderungen, die die genannten Probleme, Ängste, Sorgen und andere Gefühle mit sich bringen, sind normal. Wir können niemanden davor bewahren. Manchmal sind sie hausgemacht, manchmal kommen sie von außen – doch IMMER können die Gefühle erkannt und angenommen werden. Wir können an ihnen wachsen.

Was sind Gefühle?

Da sind sich weder Therapeuten noch Wissenschaftler so 100% einig. Ich persönlich mag die Definition von Autorin Vivian Dittmar: Man beschreibt damit eine Empfindung, die durch eine Interpretation aus dem Moment heraus entsteht und die in diesem Moment eine bestimmte Funktion erfüllt. Beispiel: Ich komme nach Hause, der Abwasch ist nicht gemacht, ich interpretiere das als »falsch« und erzeuge dadurch Wut. Diese Wut gibt mir die nötige Energie, etwas dagegen zu unternehmen, etwa selbst abzuspülen oder meinen Mitbewohner darauf anzusprechen. (Quelle: Buch „Der emotionale Rucksack“ von Vivian Dittmar; https://viviandittmar.net/buecher/der-emotionale-rucksack/ zugegriffen am 29.10.2023)

Wie können wir über Gefühle sprechen?

Der erste und einfachste Schritt ist das Visualisieren von Gefühlen. Eine ganz kurze Gefühlsrunde zu Beginn der Stunde gibt Aufschluss über das Befinden deiner Lerngruppe. So kann man bei Bedarf über Sorgen oder Ängste sprechen, Rücksicht nehmen, vielleicht auch trösten oder ähnlich für eine Änderung sorgen. Das wiederum kann zu einem starken Zusammenhalt und ein gutes Lernklima beitragen.

3 Tipps für das Visualisieren von Gefühlen im (Sport)Unterricht:

1,2 oder 3 – bist du gut drauf?

Bereite zwei Smileys vor die du an jeweils gegenüberliegende Wände befestigen kannst (oder einfach auf den Boden legst). Eines lächelt und steht für „mir geht’s richtig gut“ – dem anderen geht es entsprechend „überhaupt nicht gut“. Nun können sich die SchülerInnen aufstellen zwischen den zwei Wänden – je nachdem, wie sie sich fühlen.

Das kannst du so „stehen lassen“ oder fragen ob jemand was über seine Gefühle sagen möchte. Alternativ kann man auch drei farbige (Moosgummi) Matten auf den Boden legen grün – gelb – rot. Grünt steht für „Super gut drauf“ – rot für „Gar nicht gut drauf“. Die Positionierung sagt erst einmal nichts über die Gefühle aus, kann aber als Einstieg dienen, darüber zu sprechen.

Gefühlswäsche

An einer langen Leine hängst du verschiedene Gefühle auf z.B. Angst, Traurigkeit, Wut, Enttäuschung, Freude, Neugierde, Aufregung, Ärger, Überraschung o.a. (das kann sich auch weiterentwickeln). Alle SchülerInnen haben eine Wäscheklammer mit ihrem Namen drauf und können diese nun entsprechend an der Leine positionieren. Auch hier kann es Sinn machen, über einzelnen Gefühle zu sprechen – z.B. Könnte jemand Angst vor der Prüfung heute haben – oder es gibt ein Trauerfall bei einem Schüler, von dem du nichts wusstest oder ein Streit zwischen SchülerInnen, denn es zu schlichten gilt.

Es empfiehlt sich auch ein Fragezeichen aufzuhängen – denn manchmal kann man seine eigenen Gefühle nicht wirklich einschätzen.

Außerdem könnten die Klammern über den Tag hinweg auch ihre Position verändern, denn auch das ist wichtig zu vermitteln – Gefühle sind nicht statisch.

Wir haben hier eine kleine Anleitung für dich vorbereitet inkl möglichen Gefühlen zum Ausschneiden. WHEELUP! Gefühlswäsche als PDF

Sitzkreis

Die wohl einfachste Methode. Setzt euch zusammen und redet über eure Gefühle. Wichtig ist, dass jeder entscheiden darf ob er darüber reden möchte – niemand sollte unter Druck stehen. Und genauso wichtig ist, dass du ebenfalls über deine Gefühle sprichst, denn so kann auch deine Klasse sich anpassen und z.B. Rücksicht nehmen. Als Unterstützung können Gefühlskarten genutzt werden, die gibt es online in vielen Variation – oder du machst sie selbst.

Muss das denn wirklich sein?

„Das ist doch alles ziemlich übertrieben“ – solche oder ähnliche Reaktionen höre ich oft, wenn ich Methoden für mehr Achtsamkeit in Kita und Schule vorstelle. Viele werfen den jüngeren Generationen vor, sie seien viel zu sensibel. „Früher hat man einfach mal die Zähne zusammengebissen und weitergemacht.“

Wer so redet, übersieht allerdings den eigentlichen Grund warum immer mehr Menschen eine professionelle Therapie benötigen. Es zieht sich durch so viele Generationen und genau deshalb gehen so viele Menschen über die Grenzen ihrer Mitmenschen (Gewalt, Armut und Krieg sind das Ergebnis) – wo wir es doch eigentlich besser wissen müssten.

Hat Oma ihre Kriegserlebnisse verarbeitet? Hat das Trennungskind später als Erwachsener gelernt, wie man liebevolle Beziehungen aufbauen kann? Hat das kleine korpulente Mädchen nach ihren schulsportlichen Misserfolgen später herausgefunden, dass Bewegung eigentlich total Spaß machen kann? Wahrscheinlich nicht.

Wir leben in einer Verdrängungskultur und lernen, dass unsere Gefühle oftmals unpassend sind. Aber egal wie krass wir Gefühle und Emotionen ignorieren und verdrängen, die Folgen werden irgendwann sichtbar: Verletzte Menschen verletzen Menschen.

Wenn Gefühle und andere Emotionen verdrängt werden, können u.a. Verletzungen nicht aufgearbeitet werden. Hat man selbst nur selten echte Empathie erfahren, wird man selbst auch keine Empathie für seine Mitmenschen aufbringen können. Hat man gelernt, das eigene Regenfass bis zur Oberkante volllaufen lassen zu könne, erwartet man genau das auch vom Gegenüber, ohne Rücksicht. Hat man seine eigenen Grenzen nie erfahren und behaupten dürfen, akzeptiert man auch nicht die Grenzen des Gegenübers.

Sensibilität ist keine Schwäche – sie ist eine Stärke. Lasst uns über Gefühle sprechen – lasst sie uns erkennen, annehmen und regulieren.

WHEELUP! YOU.