Heute stehen die Prüfungen im Bodenturnen an. Ich persönlich habe das Bodenturnen geliebt – sowohl in der Schule als auch im Studium, es war eines meiner Stärken. In meiner Klasse sieht das eher gemischt aus. Ich hatte die Prüfungen bereits vor ein paar Wochen angekündigt, entsprechend ist es kaum verwunderlich, dass drei meiner Lernenden fehlen und vier weitere auf der Bank sitzen, weil sie dies oder jenes haben – bzw nicht dabei haben. Also gut, ich nehme was ich kriegen kann. Let’s go.

 

„Theo, der Handstand klappt noch nicht.“, „Marta, bei der Rolle vorwärts bist du vom Weg abgekommen“, „Karlo. Du machst immer den gleichen Fehler wenn du in den Handstand gehst.“ „Anja, das war nicht flüssig genug, bitte nochmal.“ Mein inneres Kind schreit: Puuh, Frau Mayer – sie meckern heute aber wieder ordentlich.

 

Aber was soll ich machen, die Vorgaben sind klar – und ich muss ihnen ja Feedback geben für ihre Entwicklung und so.

Eigentlich ganz klar: Du willst mit den Rückmeldungen die motorischen Kompetenzen deiner Lerngruppe fördern und die gesetzten Ziele aus dem Lehrplan verfolgen. Dafür brauch es Diagnose, Analyse und dann eben Feedback.

 

Und zusätzlich gibt es da noch eine ganz bestimmte Prägung unserer Gesellschaft: Wir lieben es unsere Aufmerksamkeit den Schwächen zu widmen. Wir schauen gerne, was noch nicht so gut klappt. Und noch mehr lieben wir es, Fehler aufzudecken – und wenn es die Nadel im Heuhaufen ist. Wir würden sie finden – natürlich nur der möglichen Weiterentwicklung zu liebe. (Sarkasmus Ende)

 

Ein Kind gelangt mit großer Entdeckungsfreude in das Bildungssystem. Es ist neugierig, aufgeweckt, es macht Fehler und lernt daraus, weil es intuitiv weiß „das bringt mich weiter“. Doch mit der Zeit gelangt es ins Schwanken – das Selbstwertgefühl kommt aus dem Gleichgewicht.

 

Denn schon früh merkt der Mensch „ich muss bestimmte Dinge leisten, um etwas Wert zu sein auf dieser Welt“. Und dann erhält der Mensch BEwertungen in Form von Noten, von rot Markierungen, von durchgestrichenen Ergebnissen oder auch in Form von körperlicher Kritik à la „Du bist zu langsam.“.

 

Schade eigentlich. Denn würden wir dieses tolle Selbstbild eines Kindes einfach beibehalten, würden wir uns sicherlich viel Wut, Frust und ggf. auch Therapiestunden ersparen. Aber die gute Nachricht ist, indem du deine Lerngruppe unterstützt, ein Verständnis für die eigenen Stärken (und Schwächen) zu entwickeln, hilfst du ihnen zurück zu diesem wichtigen Selbstbild – zurück in die Selbstliebe.

 

Was würde passieren, wenn du die Aufmerksamkeit auf die Stärken legst?

 

„Jeder ist ein Genie! Aber wenn Du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.“ Albert Einstein

 

Lass uns etwas Verrücktes tun. Lass uns einmal nicht nur die Fehler suchen… das Haar in der Suppe, die eine Sache, die nicht so gut klappt.

Ich gebe dir hier 5 gute Gründe, warum es sich lohnt den Fokus auf die Stärken zu legen.

1. Du gibst damit den Raum für Entwicklung.

Albert Einstein trifft es auf den Punkt. Wenn wir Lernenden nur auf ihre Schwächen beziehen, beschränken wir sie in ihrem Geist. Durch das Bewusstsein der Stärken kommen sie automatisch in die Selbstreflexion. Selbstreflexion ist ein essentielles Werkzeug für die eigene Weiterentwicklung im Leben.

 

2. Du förderst Einzigartigkeit

Konzentrieren wir uns nur auf die Schwächen und das „Ausmerzen“ dieser und hangeln uns am Lehrplan entlang ohne den Blick über den Tellerrand hinaus, dann fördern wir keine Individuen, wir fördern maximal einen „Einheitsbrei“, der in der großen Welt untergehen wird. Diese Kinder und Jugendliche sind so viel mehr als ihre Noten, sie sind einzigartig.

 

3. Du gibst der Gesellschaft einen Mehrwert

Ohne Witz – viele Menschen sind sich ihrer Stärken nicht bewusst. Natürlich gibt es die Standardsätze im Bewerbungsgespräch „ich bin sehr zuverlässig“, „Ich kann gut mit Menschen“, bla bla bla. Ok. Aber was sind deine Stärken, welche eigenen Ressourcen kannst du besonders effektiv nutzen? Bist du vielleicht kreativ? Bist du lösungsorientiert? Bist du begeisterungsfähig oder sensibel? Jeder Mensch hat seine Stärken und wenn er sich diesen bewusst wird, kann er einen Beitrag in der Gesellschaft leisten beruflich und privat.

 

4. Du motivierst den Lernenden

Gegen die Noten im Sportunterricht kannst du heute und morgen nichts „tun“, aber du kannst im Vorfeld dafür sorgen, dass deine Lernenden ihren eigenen Wert nicht nach  Noten messen. Erfolgserlebnisse und ein gutes Selbstwertgefühl motivieren und somit steigt die Chance automatisch, dass die Lernenden sich auf das Ziel konzentrieren und ggf. Schwächen in Stärken umwandeln.

 

5. Du weckst Potenzial

Wie viele Kinder und Jugendliche sagen von sich selbst „ich bin unsportlich“? Und das meist nur, weil sie schlechte Noten im Sportunterricht haben. Aber gibt es wirklich unsportliche Menschen? Der Mensch lebt durch Bewegung, er lernt durch Bewegung er brauch Bewegung um gesund zu bleiben. Wir denken, dass jede:r Lernende:r einen Sport finden kann, der ihm oder ihr liegt und deine Aufgabe ist es, durch die Analyse von Stärken das Potenzial zum Vorschein zu bringen.

„Der Sturm wird immer stärker. Das macht nichts – ich auch.“ Pippi Langstrumpf

 

Auch der Druck in unserer Gesellschaft wird immer stärker. Wir wachsen in einer geschäftigen und sich ständig verändernden Welt auf, in der wir schnell glauben, dass man (zu viele) Dinge von uns erwartet, die wir nicht erfüllen oder leisten können. Wir sind enttäuscht von uns selbst, hadern mit Fehlern, sind unzufrieden oder wünschen uns das „alles anders ist“. Mit Motivation und das Bestärken der Stärken machst du deine Lernenden bereit für diesen Sturm. Durch das Bewusstsein der eigenen Stärken, können Menschen in die Selbstwirksamkeit kommen.

Tipps für den „Stärke-orientierten“ Sportunterricht

 

  1. Zum Einstieg in ein neues Thema dürfen die Lernenden sich 1-3 Eigenschaften notieren, die sie als eigene Stärke sehen – bezogen auf das neue Thema. Du kannst hier gerne Vorschläge liefern und überlegen, welche Stärken braucht es für dieses Thema, für diese Sportart. Teamfähigkeit, Taktisches Denken, Schnelligkeit, Kreativität, Rhythmus, hohe Reaktionsfähigkeit, Geschicklichkeit, ….
  2. Zum Ende einer Einheit/einer Sportstunde kannst du fragen: „Worauf bist du heue besonders stolz?“ Auch diese Frage können die Lernenden für sich (möglichst) schriftlich beantworten. Bei Bedarf (und zeitlichen Raum) kann man Beispiele aus der Gruppen erzählen lassen.
  3. Gib deinen Lernenden immer wieder an den richtigen Stellen Feedback zu ihren Stärken und was du beobachtest – das kann zwischendurch oder auch in einem Abschlusskreis o.ä. stattfinden. Diese Rückmeldung muss sich nicht unbedingt auf körperliche Leistungen beziehen.

 

„Peter, du hast heut einen super Teamgeist bewiesen im Spiel, deine Intension hat das Team zusammengehalten.“

 

„Maria, du warst heute sehr kreativ im Parcours, du hast hier sehr viel Potenzial.“

 

„Mia, du bist sehr bedacht an die Übung heran gegangen und hast somit mögliche Verletzungen verhindert, das war gut.“

 

„Tim, du hast heute nicht aufgegeben bei deinen ersten Metern auf den Inline Skates, du bist nach jedem Sturz mit einem Lächeln aufgestanden und bist weiter gefahren – dein Durchhaltevermögen ist toll“

 

  1. Vergib Teilnoten um auch hier den Fokus auf die Stärken legen zu können und kommuniziere diese eindeutig. Am Ende sollte nicht die 5 im Bodenturnen überwiegen, sondern die 2 in der Leistungsbereitschaft.

Du kannst den Unterschied machen.

Aber dazu gehört eine gute innere Einstellung. Statt dich zu fragen Was kann Karlo noch nicht auf dem Weg zum Ziel XY? kannst du dich fragen Was kann Karlo schon auf dem Weg zum Ziel, worauf er aufbauen kann.

 

Erlaube dir, positiv über deinen Lernenden zu denken. Gehe davon aus, dass das was dein Gegenüber gerade tut, die bestmögliche Strategie ist, die ihm momentan zur Verfügung steht.

 

Fehlerquellen sollten trotzdem nicht unbeachtet bleiben

Und wir müssen jetzt auch keine Lobpartys schmeißen. Stärken zu stärken oder auch andere Methoden wie positive Fehlerkultur oder wertschätzende Kommunikation bedeuten nicht, dass wir jedes kritische Verhalten ignorieren oder weglächeln. Probleme und Fehler dürfen natürlich angesprochen werden – sonst würden deine Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als Lehrkraft in Frage stehen.

Vielmehr bedeuten diese Methoden und Werkzeuge, dass du den Mensch vor dir ganzheitlich siehst und respektierst. Dass du dich auf eine Kommunikation auf Augenhöhe einlässt, empathisch und motivierend lehrst und an den richtigen Stellen die Türen für „mehr“ öffnest.

 

Mit dem Blick auf die Stärken darf auch immer die Perspektive und Erwartunge ins Spiel kommen.

 

„Anton, das (XY benennen) war wirklich gut heute, was würdest du beim nächsten mal gerne noch besser machen?“ oder „Das war schon der richtige Weg – was fiel dir schwer an dieser Stelle weiterzugehen?“

 

Du kannst das übrigens auch bei dir selbst anwenden. Wie oft hinterfragst du dich und deine Schwächen selbst? Und wann bist du dir deiner Stärken bewusst und setzt diese effektiv ein?

 

Sei mutig und komme mit deinen Lernenden in den Austausch über ihre Stärken und damit auch ganz automatisch über die Schwächen und das Potenzial, das in jedem steckt. Ich wünsche mir eine Gesellschaft mit weniger Fokus auf Schwächen und dafür mehr Freude und Leichtigkeit – vor allem in Bezug auf den Sportunterricht, Bewegung im Allgemeinen und den eigenen Körper.

 

WHEELUP! YOU.